In unserer heutigen Zeit sind Begriffe wie Künstliche Intelligenz, Remote-Arbeit und Videotelefonie allgegenwärtig. Digitale Lösungen prägen unseren Alltag, machen ihn komfortabler und werden zu selbstverständlichen Begleitern, die man nicht mehr missen möchte. Im Sozialbereich, wo Teilhabe an der Gesellschaft oft mit der Überwindung von Barrieren verbunden ist, überrascht es daher umso mehr, dass digitale Technologien bisher kaum Anwendung finden.
Und dass, obwohl es mittlerweile einen großen Markt für Technologien gibt, die extra für Menschen mit Unterstützungsbedarf entwickelt wurden. Das lädt dazu ein, sich die Frage zu stellen: Warum finden Technologie-Start-ups und soziale Träger so selten zusammen? Und abgeleitet daraus, wie könnte eine solche Zusammenarbeit konkret aussehen?
Franziska Gebhardt von enna und Kim Raab, verantwortlich für Digitale Innovationen und Fördermittel bei der Stiftung Liebenau, wirken seit 2023 in einem inklusiven Pilotprojekt, das sich mit genau diesem Matchingprozess tagtäglich befasst. Im Interview geben sie Einblick in ihre Arbeit im Pilotprojekt, entscheidende Erfolgsfaktoren für das Aufgleisen einer solchen Zusammenarbeit und welche Dinge sie heute anders machen würden.
Wie ist die Idee für das Pilotprojekt entstanden?
Kim: enna hat 2022 das erste Mal per Mail zur Liebenau Teilhabe gGmbH Kontakt aufgenommen. Solche Mails sind keine Seltenheit, aber die von Franziska war in zweierlei Hinsicht spannend. Einerseits hatte ich mich schon mal mit enna auseinandergesetzt und konnte mir vorstellen, dass es interessant wäre, die Technologie gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen zu testen. Andererseits war das Timing perfekt. Wir hatten gerade das PIKSL Labor ins Leben gerufen, einen Begegnungsort für Menschen mit und ohne Behinderungen, mit dem Ziel, digitale Medien allen zugänglich zu machen und voneinander zu lernen. Dabei waren wir auch aktiv auf der Suche nach Tech-Start-ups, die mit uns ihre Technologie erproben und verbessern wollten. Gesagt, getan: Franziska besuchte uns in Friedrichshafen im Labor und wir legten direkt los.
Franziska: Ja genau. Wir von enna hatten im Sommer 2022 gerade begonnen, enna in verschiedenen Kontexten der Eingliederungshilfe zu testen. Das Ziel war, den digitalen Graben in unserer Gesellschaft zu überbrücken und mehr digitale Teilhabe in allen Altersschichten zu ermöglichen. Dabei war es wichtig, die Zielgruppe von Anfang an in die Weiterentwicklung von enna einzubeziehen. Die Stiftung mit ihrem PIKSL Labor kam da wie gerufen! Alle im Team, inklusive unserer Entwicklerinnen und Entwickler, waren begeistert, gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen daran zu arbeiten, enna noch benutzerfreundlicher und barriereärmer zu gestalten.
Wie ging es dann weiter?
Kim: Wir haben als erstes einen klaren Rahmen für das Pilotprojekt festgelegt. Im September 2023 sollte es losgehen und genau 12 Monate laufen. Wir wollten im inklusiven Team die Barrierefreiheit von enna überprüfen sowie eventuell weiterentwickeln und gleichzeitig möglichst vielen verschiedenen Menschen aus der Eingliederungshilfe die Chance geben, enna zu testen.
Franziska: Dabei gab es von Anfang an eine klare Rollenverteilung. Das inklusive Team des PIKSL Labors war unser Hauptansprechpartner und Sprachrohr in die vorhandenen Kommunikationskanäle der Stiftung. Wir haben gemeinsam Events geplant, Bereiche motiviert und Feedback erklärt, „übersetzt“ und gemeinsam reflektiert. Wir von enna haben darauf aufbauend dann vor allem technischen und moralischen Support geleistet. Wir haben die Geräte persönlich vor Ort ausgegeben und sind auch diejenigen, die sie im September wieder einsammeln.
Wie viele Bereiche nutzen enna aktuell in der Liebenau Teilhabe?
Franziska: Mitmachen konnte erstmal jeder – von interessierten Betreuungspersonen bis zur (Wohn-) Gruppenleitung. Insgesamt haben sich 13 Bereiche aus den drei Fachzentren der Region Meckenbeuren zur freiwilligen Teilnahme am Pilotprojekt bereiterklärt. Darunter auch eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Mit der Zeit haben sich dann durch Mund-zu-Mund-Propaganda noch mehr Menschen angemeldet, sodass mittlerweile 24 Geräte im Umlauf sind.
Wie zeigt sich, dass enna digitale Teilhabe im Alltag der Nutzerinnen und Nutzer ermöglicht?
Kim: Statt dem Telefon nutzen Klient*innen mittlerweile enna für Videoanrufe mit Angehörigen. Fachkräfte müssen nicht mehr aktiv die Lieblingssendung auf dem Fernseher anschalten, sondern die Klient*innen tun dies selbstbestimmt mit einer entsprechenden Karte, indem sie YouTube-Videos abspielen oder auf Mediatheken zugreifen. Es zeigt sich, dass die Vielfalt der Alltagsgestaltung zugenommen hat und die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gefördert werden. Die Liebe und Kreativität, mit der die Fachkräfte enna in den Alltag der Nutzerinnen und Nutzer einbinden, trägt dazu maßgeblich bei.
Was sind aus eurer Sicht die Erfolgsfaktoren für das Gelingen eines solchen Pilotprojekts?
Franziska: Ein wichtiger Punkt ist, dass es feste Ansprechpartner beim Träger gibt, um die Kommunikation zu bündeln. Oft gibt es nur einen Erstkontakt und dann passiert lange nichts. Mit dem PIKSL Labor war das einfacher, da gab es direkt ein ganzes Team.
Kim: Unter dem Motto Technologie zum Anfassen haben wir viel zugehört und ausprobieren lassen. Das war wichtig, um herauszufinden, wie enna überhaupt genutzt werden will. Der Ansatz des Ausprobierens hat sich auch beim Erreichen der Zielgruppe bewährt. enna ist eine Technologie, die keine bis kaum digitale Kompetenz voraussetzt. Sie bietet also die Chance, dass auch Menschen mit komplexem Hilfebedarf sich selbstbestimmt in der digitalen Welt bewegen können. Der Zugang zu dieser Zielgruppe ist nach wie vor häufig über Fachkräfte, die selbst wenig Zeit und Technik-Know-how besitzen. Bewährt hat sich dabei für uns, schnell erste Lösungen testen zu lassen und dabei die gleiche Sprache zu sprechen. Das inklusive Team des PIKSL Labors hat dafür aus unserer Sicht einen wertvollen Beitrag geleistet.
Franziska: Uns war bewusst, dass die Ressourcen in den Bereichen knapp sind. Da überlegt man sich dreimal welche Formate man plant und welche man sein lässt, aber der Invest in den Beziehungsaufbau hat sich doppelt und dreifach gelohnt. Neben der Übergabe der enna Geräte erfolgten Schulungen der Mitarbeitenden und teilweise auch der KlientInnen vor Ort. Durch den persönlichen Kontakt wurden die Beziehungen zwischen den einzelnen Projektbeteiligten von Beginn an gestärkt. Fachkräfte und Klient*innen in den Wohngruppen konnten die Personen hinter der Technologie kennenlernen.
Kim: Natürlich spielt bei Projektarbeit im Sozialbereich auch immer die Finanzierung eine Rolle. Projekt-Förderungen sind einerseits wichtig für die kreative Flexibilität, können aber auch einschränken/abhängig/bequem machen. Unser Pilotprojekt wird durch die Aktion Mensch gefördert. Umso wichtiger war es uns, nachhaltige Finanzierungskonzepte von Anfang an mitzudenken und nach und nach zu etablieren. Dafür prüfen wir seit März 2024 wer sich vorstellen könnte, die Geräte auch nach Pilotprojektende weiter zu nutzen. Mit denjenigen, die es interessiert, gehen wir dann zu alternativen Finanzierungsmöglichkeiten aktiv ins Gespräch.
Franziska: Wir hatten das Glück, dass das Pilotprojekt wissenschaftlich durch eine Bachelorarbeit begleitet wurde. In so einem Projekt kann man sich schnell im Tun verlieren und die Reflektion auf Metaebene vergessen. Es war sehr hilfreich, Kernthemen unabhängig analysieren zu lassen und Schlüsse daraus auf Metaebene zu ziehen!
Was hat aus eurer Sicht nicht so gut geklappt? Wo seid ihr vielleicht glorreich gescheitert?
Kim: Eine der größten Herausforderungen ist und bleibt die nachhaltige Integration von Technologien in den Alltag sozialer Einrichtungen. Es reicht nicht, die Geräte nur bereitzustellen – es muss auch sichergestellt werden, dass die Nutzerinnen und Nutzer kontinuierlich unterstützt und geschult werden. Dafür fehlt es aber oft an Ressourcen – ob finanziell oder personell. Es hilft, einen Ort wie das PIKSL Labor zu haben, wo man beraten wird und seine Fragen stellen kann, aber auch da muss man erstmal hinfahren. Wir bleiben dran!
Franziska: Auch Technologien haben eine Grenze. Die Gefahr bei der Einführung einer neuen Technologie ist, dass sie gerne mal als Allheilmittel für alle Probleme dienen soll. enna kann da natürlich immer nur einen Beitrag leisten und löst leider nicht alle Probleme. Das kann frustrieren, aber wir können versprechen, dass wir kontinuierlich daran arbeiten, die Technologie weiter zu verbessern und an die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer anzupassen. Wir bleiben im Dialog und suchen ständig nach neuen Wegen, um Barrieren
Und dann? Was passiert im September 2024?
Kim: Bis September werden wir die gewonnenen Erkenntnisse weiter auswerten und gezielt an den identifizierten Herausforderungen arbeiten. Unser Ziel ist es, bis dahin nachhaltige Nutzungskonzepte zu entwickeln und diejenigen, die wollen dabei zu unterstützen, die Technologie, fest in ihren Alltag zu integrieren. Danach heißt es, aus Pilotprojekten wie enna@Liebenau zu lernen, damit auch langfristig Innovationen und Digitalisierung ihren Weg in den Versorgungsalltag der Eingliederungshilfe finden, ohne am Bedarf der Zielgruppe vorbeizugehen. Ein klarer Fokus liegt dabei auf der Einbindung von Nutzerinnen und Nutzern, damit unsere Lösungen praxisnah und bedarfsgerecht sind.
Franziska: Wir sind gespannt auf die Ergebnisse und freuen uns darauf, die Erkenntnisse in unsere weitere Arbeit einfließen zu lassen. Unser Ziel bleibt es, digitale Teilhabe für alle zu ermöglichen und enna dabei kontinuierlich zu verbessern. Gerade auch aus der Perspektive eines Start-ups ist es sehr wichtig, bei zukünftigen Entwicklungen den Fokus darauf zu legen, echten und vor allem auch nachhaltigen Mehrwert für die Zielgruppen des eigenen Produktes zu schaffen.
Hier noch eine Bildersammlung aus dem gemeinsamen Pilotprojekt
Das PIKSL-Team um Kim Raab in ihrem Labor in Friedrichshafen. Neben einem ersten Kennenlernen mit enna und der zugehörigen Technologie wurden hier bereits ein erste Konzepte für eine mögliche Zusammenarbeit zwischen der Stiftung Liebenau und dem Start-up enna ausgetauscht.
Bei internen Informationsveranstaltungen stellte Kim Raab das gemeinsame Projekt mit enna vor. Eingeladen waren Fachpersonal und auch Klient*innen aus den einzelnen (Wohn-)Gruppen der Stiftung Liebenau.
Interessierte hatten die Möglichkeit, das enna System live auszuprobieren und sich für das Projekt anzumelden.
Sowohl das Team aus dem PIKSL Labor Friedrichshafen als auch Mitarbeitende von enna waren bei den Informationsveranstaltungen persönlich vor Ort.
Franziska und Simon von enna am Tag des Projektstarts. Die Geräte für die einzelnen Teilnehmer*innen wurden persönlich ausgeliefert.
Begleitend zur Auslieferung der enna Geräte wurden auch die Mitarbeitenden vor Ort und teils auch die Klient*innen im Umgang mit der
Alle Funktionalitäten des enna System konnten im Rahmen der Schulungen gemeinsam getestet und geübt werden.
Ein Teilnehmer des Pilotprojektes bei der Nutzung von enna. Durch das Auflegen der enna Karte kann er sich selbstständig ein YouTube Video ansehen.
Die Teams aus dem PIKSL Labor Friedrichshafen, von enna und von Erdmännchen und Bär führten zusammen einen “Markt der Möglichkeiten” in der Stiftung Liebenau durch. Eingeladen wurden alle Projektteilnehmer*innen.
Im Fokus des Markt der Möglichkeiten standen Feedback von den einzelnen Projektteilnehmer*innen sowie Wünsche und Vorstellungen für den weiteren Projektverlauf.
Besonders wertvoll für die Durchführung der Workshops war der enge Austausch zwischen den einzelnen Projektpartnern.
Hier sind die Ergebnisse des Markt der Möglichkeiten zu sehen. An dieser Station ging es um Feedback in Bezug auf den Rahmen des Pilotprojektes, welcher durch die Stiftung Liebenau gesetzt wurde.
Weitere Ergebnisse des Markt der Möglichkeiten. Zu sehen sind Feedback und Wünsche bezüglich des enna Systems.
Zum Abschluss trafen sich das enna und das PIKSL Team im PIKSL Labor Friedrichshafen, um sich über das Projekt auszutauschen.